Manchmal befreite mich meine Lehrerin vom Unterricht am Sonnabendvormittag, an dem wir nur Zeichnen und Sport hatten. Sie hatte Verständnis für unsere Situation, und so wir konnten sonnabends ausschlafen. Die Lehrerin war eine Respektperson, der ich eine scheue Bewunderung entgegen brachte. Rosi und ich gingen einmal nach der Stunde zu ihr ans Pult und gaben ihr heimlich ein Briefchen, in dem stand, dass wir sie sehr gern hätten und ob wir sie duzen und mit dem Vornamen Inge anreden dürften. Diplomatisch hatte sie sich aus der Affäre gezogen und uns erlaubt, sie zu duzen, wenn wir mit ihr allein waren. Im Unterricht könne sie das wegen der anderen Kinder nicht erlauben. Da wir so gut wie nie mit ihr allein waren, erledigte sich das Problem von.
Einmal besuchte ich sie aber doch in ihrer Wohnung. Sie hatte mich eingeladen, mit ihr zu handarbeiten. Wir wollten eine Kinderwagendecke für meine Mama herstellen, die noch ein Baby erwartete. Ich war elf Jahre alt und fuhr allein und heimlich zu meiner Lehrerin. Mama durfte nichts davon wissen. Es sollte eine Überraschung sein. Frau Reckers Wohnung war modern eingerichtet im nordischen Stil mit hellen Holzmöbeln. Auch die Handarbeit, an der wir arbeiteten, passte zu diesem Stil und gefiel mir eigentlich gar nicht. Ich stellte mir etwas Romantisches mit Blümchen und Spitze vor, wagte es aber nicht, mich ihr gegenüber zu äußern. Der Entwurf, den sie ausgesucht hatte, bestand aus beigefarbenem Leinen, aus dem wir Fäden herauszogen und durch blaue und rote Stickfäden ersetzten. Die Rückseite fütterten wir mit rosa Stoff ab. Obwohl es Kekse und Kakao gab, und meine Lehrerin nett war, fühlte ich mich unwohl in ihrer Wohnung und war froh, als es Zeit war, nach Hause zu gehen. Die Wagendecke für Mama habe ich später noch für meine Kinder benutzt. Sie fliegt noch irgendwo auf dem Dachboden herum, denn sie war erstaunlich haltbar. Trotzdem mag ich sie immer noch nicht leiden.